Die dissoziativen Störungen
1. Einführung
Dissoziative Störungen werden als Krankheitsbilder, die eine besondere Reaktionsform auf traumatische Erfahrungen darstellen, angesehen. Es handelt sich um Amnesie,Fugue, Stupor, Trancezustände, Bewegungsstörungen, Krampfanfälle, Sensibilitäts-und Empfindungsstörungen, Ganser-Syndrom und die Identitätsstörung.Dissoziation bedeutet Trennung von Zusammengehörendem und stellt das Gegenteil von Assoziation, der Herstellung von Verbindung von zusammengehörendem oder Integration dar. Durch einen komplexen psycho-physiologischen Prozess kommt es zu einer Fragmentierung von Bewusstsein, Kognitionen, Affekten, Verhalten, Gedächtnis, Identität, Wahrnehmung des Selbst und der Umwelt. Grundsätzlich ist die Dissoziation kein pathologischer Prozess sondern eine allgemeinmenschliche Verarbeitungsmöglichkeit und ein biologischer Schutzmechanismus mit Maximum im 4./5. Lebensjahr. Alltagsdissoziationen sind Tagträume, Gedankenabschweifen und Amnesien (zum Beispiel bei längeren Autofahrten auf gleicher Strecke).In Überarbeitungssituationen treten bei vielen Menschen Entfremdungsgefühle auf.
Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD- 10 F 43.1
Auslöser: Außergewöhnliche Bedrohung oder katastrophales Ereignis
Intrusionen:
- Flashbacks
- Erinnerungen mit Gegenwartscharakter
- Wiederholungsträume
- innere Bedrängnis in Situationen, die mit der traumatischen zusammenhängen
Konstriktion:
- emotionale Betäubung
- Stumpfheit
- Teilnahmslosigkeit
Hyperarousal:
- Ein- und Durchschlafstörungen
- Reizbarkeit
- Wut- und Panikausbrüche
- Konzentrationsschwierigkeiten
- erhöhte Schreckhaftigkeit
- teilweise oder vollständige Unfähigkeit der Erinnerung an wichtige Aspekte des Traumas
- Suizidgedanken
- autodestruktives Verhalten
- Dissoziative Zustände
- Vermeidungsverhalten
andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD-10 F 62.0
(eine postraumatische Beastungsstörung (F43.1) kann dieser Form (F62.0) vorausgegangen sein)
Auslöser: Extrembelastung durch Lebensbedrohung
- Gefühle von Hoffnungslosigkeit und/oder Leere
- Nervosität
- Gefühle von Bedrohung
- autodestruktives Verhalten (Alkoholexzesse, Gebrauch psychotroper Substanzen, offene Selbstverletzungen)
- Essattacken
- Entfremdungsgefühle
- misstrauische oder feindliche Haltung gegenüber der Außenwelt
- sozialer Rückzug
- Einschränkung der sozialen Funktionsfähigkeit
Bei pathologischen Dissoziationen kommt es zu nachhaltigen Störungen der integrativen Funktion des Bewusstseins. Nach traumatischen Situationen (z.B. einem Verkehrsunfall oder dem Tod eines Nahestehenden) kommt es (mit einer Prävalenz von 2-10%) zum Auftreten von fünf dissoziativen Hauptsymptomen:
1. Amnesie
2. Depersonalisation
3. Derealisation
4. Identitätsunsicherheit
5. Identitätswechsel
Überwältigende traumatische Erfahrungen werden durch Wahrnehmungsveränderungen vom Bewusstsein abgespalten, um ein weiteres psychisches Funktionieren zu ermöglichen. Durch die Überflutung mit komplexen physiologischen Stressreaktionen und Störungen im Neurotransmittersystem im Gehirn werden posttraumatische und dissoziative Symptome induziert. Kinder mit desorganisiertem Bindungsstil weisen vermehrte Episoden tranceartiger Zustände auf. Eine sichere Bindung und ein empathisches Primärobjekt schützt dagegen durch die Erhöhung der Stressschwelle den Hippocampus und den orbitalen Cortex präfrontalis vor Schädigungen durch die Stresshormone Noradrenalin/ Dopamin und Glucocorticoide. Gehäufte Stresserfahrungen in der Kindheit schädigen (über den erhöhten Glucocorticoid- Spiegel) sowohl den Hippocampus mit Einbußen im deklarativen Gedächtnis als auch (über einen erhöhten Dopamin-/Noradrenalin-Spiegel) den orbitalen Cortex präfrontalis und bewirken eine anhaltende Dysfunktion des autonomen Nervensystems. Die Störung des Hippocampus verschlechtert das Kurzzeitgedächtnis und führt (über die gestörte dynamisch-assoziative Verknüpfung von Erlebnisinhalten) zu Dissoziationen. Daneben wird durch den Verlust des Kontrolle im Rahmen eines Circulus vitiosus über die Cortisol-Freisetzung die Glucocorticoid-Schädigung verstärkt, wodurch der Hippocampus wieder geschädigt wird. Durch die Fehlfunktion des orbitalen Cortex präfrontalis wird die kognitive Stressbewältigung (Coping, Handlungsplanung und Organisation, Hemmung ungeeigneter Antworten) anhaltend gestört. Die erhöhte Stress Vulnerabilität stellt offenbar eine Ursache des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) dar.
2. Geschichte des Konzepts
Es handelt sich nicht um neue Krankheitsbilder. Zwischen 1840 und 1880 war das Thema der gespaltenen Persönlichkeit eines der von Psychiatern und Philosophen am häufigsten diskutierten Themen. Der französische Psychiater Pierre Janet (1859-1947) führte den Begriff der Dissoziation als Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins in die Fachwelt ein. Als wichtigsten Auslöser nannte er (1889) real erlebte Traumata, die zu einer Störung der Ich Funktion, Integration und zu den sogenannten "Idées fixes" führen. In der Folge legte Morton Prince Janets Dissoziationskonzept seinen Arbeiten zugrunde, in denen er Zusammenhänge zwischen frühen traumatischen Erfahrungen und dissoziativer Identitätsstörung, die er alternierende Persönlichkeit nannte und führte die Bezeichnung Co Bewusstsein ein. Parallel zu Janet entwickelte Freud seine triebtheoretischen Modelle und lieferte damit ein plausibles Verständnismodell für die hysterischen Störungen. Bis heute ist die Kontroverse um das Hysteriekonzept mit den beiden Protagonisten Janet und Freud mit den Konzepten Trauma vs. Konflikt (aktive mentale Verdrängung als psychodynamischer Prozess vs. passiver mentale autoregulativ hypnoide Verarbeitung traumatischer Erfahrungen) aktuell und wiederholt die wechselnde Klassifizierung der Hysterie als "Konversion" oder "Dissoziation" in den Diagnosesystemen.
3. Dissoziative Störungen
Von der Ätiopathogenese her sind psychodynamische und neurobiologische Faktoren von Bedeutung. Dissoziative Symptome sind nicht leicht zu erkennen, da sie von den Betroffenen oft nicht bemerkt werden. Im ICD-10 werden die dissoziativen Störungen zusammen mit den konversionsneurotischen Symptomen klassifiziert. Im DSM-IV getrennt.
3.1 Die dissoziative Amnesie
Symptomatik
Es handelt sich um Erinnerungslücken bezüglich belastender Lebensereignisse.
Folgende Formen treten auf:
- generalisiert auf alle Ereignisse innerhalb eines bestimmten Zeitraums
- lokalisiert auf umschriebene Ereignisse
- selektiv auf einige, jedoch nicht alle Ereignisse eines bestimmten Zeitraums
- systematisch in Bezug auf Aspekte oder Kategorien eines Ereignisses
- akut, mit z.T. erheblichen Beeinträchtigungen
- chronisch, oft verdeckt
- isoliert
- kombiniert mit anderen dissoziativen Störungen
Häufigkeit:
Auftreten bei etwa 10% der Allgemeinbevölkerung nach traumatischen Ereignissen.
Diagnostik:
Die differenziert psychiatrisch-psychodynamische Untersuchung ist notwendig neben dem eventuellen Einsatz eines strukturierten Interviews für dissoziative Störungen (SKID-D). Organische Ursachen (epileptische Anfallsleiden, Enzephalitiden, endokrinologische, kardiologische Erkrankungen, Intoxikationen, vaskulär bedingte hirnorganische Störungen, Demenz, Psychosen, artifizielle Störungen, Depressionen) müssen ausgeschlossen werden.
Therapie:
Abhängig vom Schweregrad liegt beim isolierten Auftreten eine Indikation für eine psychodynamische Kurzzeittherapie vor, bei Kombinationen mit anderen dissoziativen Störungen ist eine psychodynamische Langzeittherapie, eventuell ergänzt durch spezifische Traumakonfrontationen vor.
3.2 Die dissoziative Fugue
Symptomatik:
Es handelt sich um das plötzliche und unerwartete Entfernen der betroffenen Person aus ihrer gewohnten Umgebung, mit einer Amnesie für die persönliche Lebenssituation und Vergangenheit, teilweise mit der Annahme einer anderen Identität und nach außen hin unauffälligem Verhalten. Nach dem Ende des Zustandes besteht zumeist eine Amnesie für den Zeitraum.
Häufigkeit:
Es handelt sich um ein eher seltenes Krankheitsbild. Meist bildet sich der Zustand spontan zurück. Rezidivierende Verläufe können auftreten. Die Diagnose wird auf die selbe Weise wie bei der Dissoziativen Amnesie gestellt. Differentialdiagnostisch müssen ebenfalls die selben somatischen und psychischen Erkrankungen ausgeschlossen werden.
Therapie:
Die Therapie entspricht der bei der Dissoziativen Amnesie beschriebenen.
3.3 Der dissoziative Stupor
Symptomatik:
Die Betroffenen sind bewegungslos und schweigen ohne Reaktion auf Umgebungs oder Schmerzreize. Auch hier besteht nach Abklingen eine partielle oder totale Amnesie für den Zustand. Häufigkeit und Verlauf Es handelt sich um eine eher seltene Störung. Der Zustand kann Minuten bis Stunden, in seltenen Fällen Tage und Wochen anhalten, mit fluktuierendem Verlauf. Zumeist klingt die Symptomatik spontan ab.
Diagnostik:
Bei dem dissoziativen Stupor handelt es sich um eine Notfallsituation mit der Notwendigkeit des Ausschlusses lebensbedrohlicher Erkrankungen. Neben den bei den vorangegangen Dissoziativen Störungen erwähnten Erkrankungen ist die Porphyrie, Enzephalopathien (hepatisch oder renal) und der katatone Stupor bei der Schizophrenie auszuschließen.
Therapie:
Die Patienten sollen über ihren Zustand aufgeklärt werden, unter Anwendung des Dissoziationsstopps. Hierbei werden die Betroffenen nach der Vorstellung des Therapeuten in einem sehr neutralen Tonfall begrüßt und die räumliche, zeitliche und örtliche Orientierung wird festgestellt. Sie werden aufgefordert, ruhig zu atmen, beim Ein- und Ausatmen im Sekundentakt von eins bis fünf zu zählen und sehr intensiv aufgefordert, Blickkontakt aufzunehmen und in die Situation des Hier und Jetzt zurückzukommen. Nach Ankündigung kann der Betroffene am Unterarm angefasst werden. Gewaltsame Versuche, den Zustand zu unterbinden, müssen unterbleiben.
3.4 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom
Symptomatik:
Bei der Depersonalisation wird das eigene Selbst entfremdet und unwirklich wahrgenommen. Die Sinnesempfindungen (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch), die Körperbedürfnisse (Hunger und Durst), die Gedanken, Handlungen und Gefühle sind gestört und werden als nicht zum Selbst gehörig erlebt, die Körperwahrnehmung ist teilweise verändert. Manchmal wird die Symptomatik als "Benommenheit" beschrieben. Im Zustand der Derealisation wird die Umwelt als fremd und unwirklich wahrgenommen. Häufig treten depressive und phobische sowie zwanghafte Begleiterscheinungen auf.
Häufigkeit und Verlauf:
Das isolierte Depersonalisationssyndrom ist eher selten und betrifft jüngere Menschen mit einem doppelt so häufigen Auftreten bei Frauen. Der Verlauf ist in bis zu 50% chronisch. Als Komorbidität ist der Substanzmissbrauch i.S. eine Selbstmedikation von Bedeutung.
Diagnose:
Physiologische Depersonalisationszustände als Folge von psychischem oder somatischem Stress (Schlafmangel, sensorische Deprivation) sind neben Intoxikationen, neurologischen Störungen, Tumorerkrankungen und endokrinologischen Störungen auszuschließen. Depersonalisationszustände treten auf im Rahmen von somatoformen, Angst,depressiven, posttraumatischen Zwangs-, Esssörungen.
Therapie:
Die psychodynamische Behandlung zielt auf die unbewussten Konflikte bzw. zu Grunde liegenden Traumata im Rahmen der traumaspezifischen Behandlung. Psychopharmakologisch können SSRI-Hemmer (z.B. Seroxat) eingesetzt werden. Trizyklische Antidepressiva bzw. Mirtazapin können jedoch auch Depersonalisationszustände auslösen.
3.5 Dissoziative Krampfanfälle
Symptomatik:
Es handelt sich um pseudoepileptische Anfälle mit einer zeitlich begrenzten Störung der Kontrolle motorischer, sensorischer, autonomer, kognitiver, emotionaler und von Verhaltensfunktionen. Gelegentlich treten prodromale Missempfindungen (Geruchsempfindungen, diffuse Angst, Herzklopfen, Ohrensausen, Atemnot, Druck im Epigastrium, Schwindel) auf.
Folgende Formen treten auf:
- Ohnmachtsanfälle, bei denen die Patienten langsam zu Boden sinken und mit geschlossenen Augen ruhig liegen in einer Art Trancezustand.
- Wutanfälle mit dramatischem Beginn, oft mit Lautäußerungen, wobei die Betroffenen zu Boden fallen mit möglichen Verletzungen, heftige körperliche Bewegungen (Kratzen, Beißen, Schlagen) zeigen.
- Abreaktionsanfälle, die dem früher oft beschriebenen "Arc de Cercle" ähneln, mit konvulsiven Bewegungen, häufig Atemstörungen und gelegentlichen Selbstverletzungen.
- Pseudoepileptische Statuszustände, die nicht selten zu intensivmedizinischen Behandlungen führen.
Häufigkeit und Verlauf:
Man geht von einer Inzidenz zwischen 1,4 und 4,3 auf 100.000 Menschen pro Jahr aus. Etwa 25% der therapieresistenten Epilepsien werden als nicht erkannte dissoziative Anfälle angesehen. Meist dauert ein dissoziativer Anfall länger als ein epileptischer. Die Frequenz der Anfälle variiert stark, bei einem häufigen wöchentlichen Auftreten. Der sekundäre Krankheitsgewinn ist für den Therapieerfolg entscheidend.
Diagnose:
Folgende Zeichen erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer dissoziativen Genese:
- Geschlossenen Augen mit Widerstand gegen Öffnung von außen durch den Untersucher
- Erhaltene Lichtreaktion der Pupille und Cornealreflex
- Seltene Blickdeviation
- Fehlen ausgeprägter vegetativer Begleitzeichen (Hypersalivation, Zyanose, Blutdruckanstieg)
- Seltenes Auftreten von Zungenbissen, Einnässen oder -koten.
- Nur gelegentliche Verletzungen durch Stürze
- Meist bizarre Bewegungen (Strampeln, Schütteln, Zittern)
- Seltenes Auftreten aus dem echten Schlaf heraus
Unspezifische EEG-Veränderungen sind bei 20-50% der Betroffenen zu finden. Zu bedenken ist, dass bei bestimmten epileptischen Anfällen keine EEG-Veränderungen nachweisbar sind. Serologische Parameter (Kreatininkinase, Prolaktin, neuronenspezifische Enolase) haben nur begrenzte Aussagekraft. Ein dissoziativer Anfall kann nicht durch Ansprechen auf Antikonvulsiva ausgeschlossen werden. Internistische (kardiologische und endokrinologische) ebenso wie eine Tumorerkrankung, Intoxikationen, Psychosen, artifizielle Störungen sowie Angsterkrankungen müssen ausgeschlossen werden. Die Abgrenzung gegenüber Temporallappen-Epilepsie ist schwierig. Gelegentlich treten dissoziative Anfälle neben echten epileptischen auf.
Therapie:
Die psychodynamische Langzeittherapie ist meist, teilweise unter Einschluss spezifischer Traumakonfrontationen wie dem EMDR indiziert. Bei Patienten mit hohem sekundären Krankheitsgewinn kann eine Verhaltenstherapie angewandt werden. In besonders schweren Fällen ist eine stationäre Behandlung notwendig.
3.6 Trancezustände
Symptomatik:
Es handelt sich um den zeitweiligen Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung. Aufmerksamkeit und Bewusstsein können nur auf ein bis zwei Aspekte der Umgebung begrenzt sein. Bisweilen verhalten sich die Betroffenen so, als seien sie von einer anderen Persönlichkeit bzw. Kraft "beherrscht". Es handelt sich ausschließlich um unfreiwillige bzw. ungewollte, die alltäglichen Aktivitäten unterbrechende Zustände, häufig mit wiederholten Bewegungsabläufen oder Äußerungen.
Diagnose:
Es handelt sich um eine eher seltene Störung. Auszuschließen sind religiöse oder kulturell determinierte Situationen, neben psychotischen Erkranken, Temporallappen Epilepsie, Schädel-Hirn-Traumata, Intoxikationen durch psychotrope Substanzen. Die Zustände bilden sich in der Regel spontan zurück.
Therapie:
Die Therapie entspricht der unter der dissoziativen Amnesie, Fugue dargestellten, nämlich je nach Schweregrad einer psychodynamischen Kurzzeittherapie oder einer psychoanalytisch orientierten ambulanten Langzeittherapie.
3.7 Dissoziative Bewegungsstörungen=
Symptomatik:
Meist handelt es sich um den teilweisen oder vollständigen Verlust der Bewegungsfähigkeit einer oder mehrere Körperteile mit resultierender vollständiger oder partieller Lähmung, Ataxie, Astasie, Abasie, übertriebenem Zittern mehrerer Extremitäten, Apraxie, Akinesie, Aphonie, Dysphonie, Dysarthrie, Dyskinesie.
Häufigkeit:
Genaue epidemiologische Angaben fehlen bislang.
Diagnostik:
Körperliche Erkrankungen, Multiple Sklerose, systematischer Lupus erythematodes, Psychosen, schwere depressive Störungen müssen ausgeschlossen werden.
Therapie:
Die Therapie entspricht der bei der dissoziativen Amnesie dargestellten.
3.8 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
Symptomatik:
Es handelt sich um Anästhesin, Parästhesin, Sehstörungen als Verlust der Sehschärfe sowie Hörstörungen und Anosmie.
Häufigkeit und Verlauf:
Es wird von einer Prävalenz von 1-3 Promille ausgegangen. Typischerweise stimmen die Symptome nicht überein mit bekannten anatomischen Gegebenheiten und physiologischen Mechanismen. Objektive Symptome wie beispielsweise Reflexveränderungen kommen selten vor. Die Symptomatik limitiert sich zumeist selbst. In einigen Fällen kann es jedoch zu körperlichen Spätfolgen, wie Atrophien und Kontrakturen kommen. Neurologische oder andere medizinische Krankheitsfaktoren wie substanzinduzierte Störungen müssen ebenso ausgeschlossen werden wie Multiple Sklerose, Myasthenia gravis bzw. andere organbezogene somatische Erkrankungen, neben Schizophrenien und Simulationen, wobei die Symptome absichtlich herbeigeführt werden.
3.9 Ganser-Syndrom
Es handelt sich um ein ausgesprochen seltenes, komplexes Störungsbild, das durch "Vorbeiantworten" gekennzeichnet ist.
3.10 Dissoziative Identitätsstörung
Die dissoziative Identitätsstörung stellt, neben der dissoziativen Amnesie, dissoziativer Fugue, dissoziativer Depersonalisationsstörung, nicht näher bezeichneter dissoziativer Störung, eine Kategorie im DSM-IV dar.
Symptomatik:
- Amnesien
- Entfremdungserleben
- Stimmenhören im Kopf
- Manifestation von Identitätswechseln (spontane Altersregression, fortlaufende
- innere" verbale oder schriftliche Dialoge, Finden von Sachen an deren Erwerb man sich nicht erinnern kann, Verwendung der dritten Person "er, sie, wir" für sich selbst) Das Hauptmerkmal ist das Vorhandensein von mindestens zwei unterscheidbaren Teilidentitäten, die wiederholt Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen, verbunden mit dissoziativen Amnesien. Die Alternativ-Ichs werden als nicht zur eigenen Persönlichkeit gehörend wahrgenommen und übernehmen auf bestimmte (innere oder äußere) Auslösereize hin die Kontrolle über Erleben und Verhalten der Person. Häufig besteht eine teilweise oder vollständige Amnesie über die Handlungen der anderen Teilpersönlichkeit. Das beschriebene Erscheinungsbild wird oft durch folgende co-morbide Symptome und Störungen überlagert:
- Impulsdurchbrüche
- Selbstverletzungen
- Angstsymptome
- Substanzmissbrauch
- Somatisierungs- oder Essstörungen
- Schwere Depressionen, Suizidimpulse und Versuche
- Starke Schwankungen im affektiven und allgemeinen Funktionsniveau
- Verschiedene Formen von Persönlichkeitsstörungen wie etwa Bordrline, vermeidende/unsichere und dependente Störung
Häufigkeit und Verlauf:
Die Störung wird bei Frauen drei- bis neunmal häufiger diagnostiziert als bei Männern und tritt meist schon im frühen Kindesalter mit chronischem Verlauf auf falls keine adäquate Behandlung stattfindet. Die Prävalenzzahlen in der Allgemeinbevölkerung liegen in einem Bereich von 2 bis 7% für dissoziative Störungen, bei 1% für dissoziative Identitätsstörungen. Besondere Risikogruppen sind Patienten mit positiver Traumaanamnese, Suchterkrankung, Angsstörung, anderen affektiven Störungen, Borderline Persönlichkeitsstörung und akuten Belastungsstörungen. Meist werden drei Vordiagnosen mit einer Latenz von 6 bis 22 Jahren bis zur adäquaten Diagnosestellung gestellt. Niederländische Forscher entdeckten eigene zerebrale Netzwerke für jede Teilidentität. (Reinders 2003)
Ätiopathogenese:
In zahlreichen kontrollierten Studien wurden als Genese übereinstimmend langdauernde schwere frühkindliche Traumatisierungen, d.h. sexuelle, körperliche und/oder emotionale Misshandlungen (bei über 90% der befragten Patienten) gefunden. Die Dissoziation wird als Antwort auf wiederholte frühe Traumata im Sinne einer kreativen Überlebensstrategie, die hilft mit überwältigenden Erfahrungen fertig zu werden durch die Ausbildung von Alternativpersönlichkeiten, die die traumatischen Inhalte abkapseln gesehen. Dadurch besteht die Möglichkeit sich durch Erinnerungsverlust vor diesen schmerzhaften Inhalten zu schützen. Der Preis dieser Art von Traumabewältigung ist eine im Erwachsenenalter unkontrollierte Dissoziation mit Amnesie, Entfremdungserleben und tiefgreifend fragmentierter Identität. Kritiker des posttraumatischen Konzeptes der dissoziativen Identitätsstörung von Seiten des sozio-kognitiven Modells (Spanos 1994) stellen das Konzept und die Validität der Diagnose als psychiatrisches Störungsbild in Frage und sehen in der Phänomenologie ein erlerntes, durch Medien oder Therapeuten iatrogen suggeriertes Rollenverhalten. Diese Kritik lässt sich widerlegen, indem Borderline-, vermeidende, selbst unsichere und dependente Persönlichkeitsstörungen viel häufiger als histrionische Persönlichkeitsstörungen (im Rahmen der Co-Morbidität) gefunden werden. Die vermutete Selbst-Aufwertung und der sekundäre Krankheitsgewinn als Motivationsgrundlage wird von der klinischen Erfahrung und den Schilderungen der Patienten nicht bestätigt. Die meisten verbergen ihre Symptomatik aus Scham oder Angst für "verrückt" gehalten zu werden.
Diagnostik:
Da die betroffenen Patienten in ihrer Vorgeschichte oft traumatische Beziehungserfahrungen gemacht haben fällt es ihnen schwer sich im therapeutischen Gespräch zu öffnen. Daher ist auf Risikofaktoren und diskrete Symptome zu achten. Ansonsten stehen standardisierte Messinstrumente zur Verfügung. Es handelt sich um Screening-Instrumente zur primär psychologischen Dissoziation (DES, dt: FDS, DIS-Q) und zur somatophormen Dissoziation (SDQ5, SDQ20). Daneben stehen diagnostische Interviews zur Verfügung (DDIS, dt: SIDDS und SCID-D). Dabei ist ein halb strukturiertes Interview Standard für die operationalisierte Diagnostik. Das Interview erfasst in fünf Kapiteln systematisch die auftretenden dissoziativen Hauptsymptome sowie deren Schweregrad und erlaubt eine Differentialdiagnostik. Für die Auswertung des Interviews werden auch non-verbale Äußerungen und beobachtbare Anzeichen von Dissoziation wie etwa Amnesien für vorherige Interviewfragen, Trancezustände, auffällige Wechsel in Verhalten und Erleben des Patienten einbezogen.
Therapie:
Die Behandlungsrichtlinien für erwachsene Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung sehen eine hochfrequente ambulante Einzeltherapie vor, bei der auf die besonderen Bedürfnisse und Probleme der Klientel eingegangen wird mit psychodynamischen und kognitiv-behaviouralen (neben hypnotherapeutischen und familientherapeutischen) Ansätzen als Methode der Wahl. Die Therapiedauer streckt sich danach über vier bis acht Jahre. Therapeutisches Ziel ist die Förderung der inneren Verbundenheit und Beziehungen zwischen den alternierenden Persönlichkeitsanteilen. Die Patienten sollen ein Gefühl für ein einheitliches und alltagstaugliches Selbst entwickeln bis hin zu einer ständigen Integration aller Teilidentitäten in die Gesamtpersönlichkeit. Minimalziel ist eine weitgehende Kooperation aller Alternativ-Ichs im Tagesbewusstsein ohne Amnesien mit bewusster Kontrolle des Patienten über die einzelnen Anteile und ohne Abspaltung oder Ablehnung einzelner Anteile, wenn eine vollständige Integration nicht erreichbar ist. Vier Phasen der Therapie bei dissoziativer Identitätsstörung (Hermann 1993, Huber 1995, Kluft 1999):
1. Aufbau der therapeutischen Beziehung; Arbeitsbündnis mit allen Teilidentitäten; Stabilisierung Hier steht der Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen therapeutischen Beziehung mit der Abklärung und der Stabilisierung der aktuellen Lebenssituation des Patienten und die Arbeit an den persönlichen Ressourcen im Vordergrund. Beim "Mapping" werden die individuellen Persönlichkeitssysteme erkundet. Die Teilidentitäten mit ihren speziellen Fähigkeiten und Problemen werden mit Berücksichtigung ihrer Funktion im Gesamtsystem bearbeitet.
2. Förderung der Kommunikation zwischen den Teilpersönlichkeiten In dieser Phase begegnen sich die bisher füreinander amnestischen Alternativ-Ichs, nehmen Kontakt zueinander auf, lernen sich kennen und versuchen erste Kooperationen.
3. Traumabearbeitung und Integration der Teilidentitäten
4. Postintegrative Psychotherapie Auf der Basis einer guten Interaktion der verschiedenen Persönlichkeitsanteile wird die kontrollierte Hervorbringung traumatischer Erinnerungen möglich, die auch bewusst gestoppt und einer gezielten Bearbeitung zugeführt werden können. Diese Phase wird Traumasynthese genannt und beinhaltet eine Rekonstruktion der traumatischen Erfahrungen sowie eine kontrollierte Exposition in einem hochstrukturierten Setting. Hierdurch wird ein kontrollierbares Wiedererleben des Traumas in kleinen Schritten möglich. Verschiedene Techniken (Bildschirm, Beobachter, EMDR) werden eingesetzt. Dadurch können schwere und komplexe Traumatisierungen bearbeitet werden. Durch die erfolgreiche Traumasynthese wird der Patient in die Lage versetzt das Trauma und die damit verbundenen Gefühle und Gedanken als realen Teil seiner persönlichen Lebensgeschichte anzuerkennen, allmählich angemessen zu verarbeiten und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.Die traumatischen Erinnerungen verlieren dadurch ihre Tendenz zu spontanen und unkontrollierten Re Asssoziationen. Der Abwehrmechanismus der Spaltung kann dadurch aufgegeben und die Möglichkeiten einer Integration der verschiedenen Teilidentitäten aufgebracht werden. Durch die Integration können sich in einem langen Prozess die einzelnen Anteile annähern und so ihre Erfahrungen und Eigenheiten intensiv teilen, sodass sie zu einem Wissen und einer Person verschmelzen. Stufe um Stufe geht es von einer weitgehenden Amnesie über stärker werdendes Co-Bewusstsein und Kooperation der unterscheidbaren Persönlichkeitsanteile zu einer Integration und schließlich zu einer einheitlichen Gesamtpersönlichkeit. In der nachintegrativen Therapiephase geht es um die Trauerarbeit über die verlorene Kindheit und die erlebten Verletzungen. Der Patient muss außerdem auf der Basis eines veränderten Selbst- und Lebensgefühls neue Bewältigungsstrategien im Hinblick auf sein Erleben, Reagieren und Sozialverhalten aufbauen. Bestimmte anhaltende Symptomatiken der Alternativ-Ichs, wie etwa Essstörungen oder Borderline-Persönlichkeitssörungen , werden gegebenenfalls psychotherapeutisch im Rahmen der Richtlinienverfahren behandelt.